/ Tattoos für die Seele
Veröffentlicht am 14. November 2020
Tattoos für die Seele
Dürfen wir vorstellen: Stephan oder Rolli-Stephan, wie er sich auch selbst nennt. Stephan leidet unter Dystrophie der unteren Extremitäten, einem Gendefekt, der seine Arme und Beine zunehmend verkümmern lässt. Eine Krankheit, die mit zunehmendem Alter leider immer weiter fortschreitet und zwangsläufig dazu führt, dass man immer mehr auf fremde Hilfe und Pflege angewiesen ist.
Doch die körperlichen Einschränkungen stellen nur einen Teil der Erkrankung dar. Die seelisch/psychischen Auswirkungen sind nicht weniger schwerwiegend: Die Behinderung bedeutet immer auch, von vielen Bereichen des normalen Lebens ausgeschlossen zu sein. Und noch schlimmer: Die Blicke der Menschen spiegeln (fast) immer wider: „Oh-Gott, der Arme! Behindert!“
Mitleid kann weh tun.
„Oh, coole Tattoos!“
Rolli-Stephan kam vor vielen Jahren erstmals zu uns, da er ein etwas missglücktes altes Tattoo überdeckt haben wollte. Er erhielt von Tara seinen ersten Asia-Sleeve. Und plötzlich passierte etwas völlig Unerwartetes: Die Menschen haben zuerst seine Tattoos wahrgenommen und nicht seine Behinderung. Die Reaktion war nun „Oh, coole Tattoos!“, statt bislang verlegenes Schweigen und abgewendete Blicke.
Dies mag für Außenstehende völlig unbedeutend sein, für Betroffene wie Stephan ist dies jedoch eine einschneidende Veränderung. Niemand möchte nur bzw. vornehmlich als „behindert“ wahrgenommen werden. Ein „Oh, coole Tattoos!“ gibt ihm das Gefühl, ein ganz normaler Typ zu sein, dabei zu sein, als Mensch wahrgenommen zu werden.
Mehr als nur ein Tattoo
Tattoos für die Seele? Dass Tattoos das eigene Selbstwertgefühl stärken, ist mittlerweile wissenschaftlich erwiesen. Siehe hierzu auch den entsprechenden Beitrag in der Tattoo Spirit. Für uns und für Stephan liegt es auf der Hand: Die eigene Körperwahrnehmung verändert sich nachhaltig positiv (bei guten, langlebigen Tattoos!) und selbst bei organischen Leiden wie Neurodermitis berichten uns Kunden immer wieder von deutlichen Verbesserungen.
Stephan hatte für einige Jahre aufgrund seiner Krankheit (und falscher Medikamente) zudem sein Augenlicht fast vollständig verloren. Als dies wieder besser wurde, lies er sich japanische Motive stechen, die zu seiner neuen Lebenslage passen: Die Lotus-Blume als Symbol für ein neues Leben, den Koi als Glücksbringer, die Hannya-Maske die nach japanischer Mythologie über ihren Träger wacht. Zusätzlich zu dieser sehr persönlichen Bedeutung, die für ihn bis heute nicht an Kraft verloren haben, ergab sich diese ganz neue Wahrnehmung durch andere, sowohl Fremde als auch Freunde.
Und so war Stephan konsequent und hat weiter gemacht. Teils mit Motiven, die ihm etwas bedeuten, solchen, die ihm nur gefallen aber auch einigen, die mitunter verstören, wie das Exorzisten-Auge auf seinem Hinterkopf. Geld hat er dafür eigentlich nicht aber Zeit, und so ist er in den letzten Jahren immer wieder bei kurzfristigen Terminausfällen eingesprungen. Uns war es dann immer eine Freude, ihm mit einem weiteren Tattoo ein Stück mehr „Normalität“ zu verschaffen. Da geht uns das Herz auf und das ist sogar mehr Wert als Geld.